Dies Haus
in dem wir wohnen
wird hinter uns abgerissen
Wir liefern die Schlüssel ab
beim Verwalter
so ist es
Es sind
ein paar Dialoge geschrieben
die andere sprechen
Die Bücher
machen das größte Kopfzerbrechen
Für die paar Tage bitte
keine Blumen mehr
nichts mehr einkaufen
Vier Stockwerke
das ist die Höhe
Wenn es soweit ist
muss alles sehr schnell gehen
(Nicolas Born [1937-1979], in: "Gedichte 1967-1978", Rowohlt 1978)
Anmerkung: Manchmal werde ich den seltsamen Eindruck nicht los, dass eine Menge kritische Literatur bereits vor Jahrzehnten von Menschen geschrieben worden ist, die wohl über eine Zeitmaschine verfügten und eigentlich über unsere heute zerfallende Weltkulisse geschrieben haben. Vielleicht waren diese Menschen damals aber auch einfach etwas feinfühliger und haben die auch damals natürlich schon vorhandenen, deutlichen Tendenzen, die zum heutigen kapitalistisch-humanistischen Inferno geführt haben, schlicht etwas wacher und deutlicher wahrgenommen als es die damalige Propaganda der "Elite" vorgegeben bzw. vorgesehen hat.
Menschen, die heute vergleichbare Gedanken formulieren, werden nicht nur aus jedem künstlerischen Betrieb rigoros ausgeschlossen, sondern gleich zu "Ketzern" bzw. den allseits beliebten "Verschwörungstheoretikern" erklärt - und damit auch zukünftig an jeglicher Teilnahme am kulturellen Entwicklungsprozess, der ja längst auch gelenkt und damit zum Erliegen gekommen ist, gehindert. Es ist noch gar nicht so lange her, da wurden Gedichte wie dieses in Schulen und Universitäten diskutiert, interpretiert und analysiert - heute kann ich mir das angesichts der grotesken "Lernmodule" und gleichgeschalteten "unternehmerischen", auf reinen Profit getrimmten und vom Wohlwollen irgendwelcher "Unternehmen" abhängigen Hochschulen nicht einmal mehr mit viel herbeigezauberter Fantasie vorstellen.
So werden wir Zeugen, wie die rudimentären Ansätze eines solidarischen Wohlfahrtsstaates, die nach der Katastrophe des letzten Kapitalismus-Endes und der nachfolgenden faschistischen Barbarei in langwierigigen und schweren Auseinandersetzungen ganz langsam erkämpft wurden, nun in immer schnellerem Tempo wieder abgeschafft und niedergerissen werden, während die mahnenden und damals auch teilweise gehörten Stimmen der Vergangenheit allmählich verstummen - in der erneuten untergehenden Glitzerwelt des Kapitalismus gibt es mahnende Stimmen nun ganz offiziell nur noch in der Form von Spinnern, Verschwörungstheoretikern und "ewig Gestrigen" - während das tatsächlich ewig Gestrige zeitgleich wieder rigoros an Fahrt aufnimmt. Die Formulierung des letzten Verses hat Born sicherlich mit großem Bedacht gewählt: Die Zerstörungen und zunehmenden Verwerfungen zugunsten der absurden Superreichtumsvermehrung der "Elite" mögen zunächst langsam vonstattengehen - aber wenn der unvermeidbare Endpunkt naht, muss es in der Tat "sehr schnell gehen", damit auch bloß niemand merkt, was für ein widerliches Spiel da eigentlich wiederholt wird.
"Dies Haus" ist das programmatische Gedicht von Schröder, Fischer und Konsorten, die unter dem Beifall der schwarz-gelben Bande den Abriss der ersten Fragmente eines beginnenden Wohlfahrtsstaates in die Wege geleitet haben - und wir dürfen gewiss sein, dass das Ende dieses Zerstörungsprozesses, den die Bande selbstredend in guter Orwell-Tradition und mit Unterstützung der Propagandamedien auch noch "Reformen" nennt, erst dann erreicht ist, wenn es tatsächlich wieder einmal "sehr schnell" gehen muss, um "Schäden" am Wachstum des Superreichtums (wohlgemerkt: nicht am eigentlichen Superreichtum, sondern lediglich am stetigen, nie endenden Zuwachs dieser grotesken Geldhalden) abzuwenden, indem einmal mehr eine unbeteiligte Minderheit oder, wenn's gar nicht anders geht, eben gleich die ganze faule Bevölkerung zum Sündenbock gemacht wird.
Dieses Haus ist ein Totenhaus, es ist todkrank, ins Perverse abgedriftet und in einer ewigen Zeitschleife der Wiederholung gefangen - in der Literatur nennt man so etwas "Albtraum" oder "Dystopie". Leider leben wir nicht in der Literatur, sondern in der Realität.
6 Kommentare:
was gibst du dir mühe: diese degenerierte spezies versteht sowas doch nicht, du hast das doch grade erst eindrucksvoll mit dem dschungelscheiß gezeigt.
wenn ich du wäre würd ich mit dem bloggen aufhören und mich auf den verbleibendden rest meines lebens konzentireren.
Bitte NICHT mit dem Bloggen aufhören. Nicht jeder ist degeneriert in dieser Gesellschaft.
Ach, ich hör' so schnell nicht damit auf, mein vehementes "Nein" in diese furchtbare Welt zu bloggen. Es ist nur eine unbedeutende Stimme unter vielen, aber immerhin eine Stimme.
Ich tue das hier nicht, weil ich mir irgendeine Resonanz oder gar Wirkung erhoffe, sondern weil ich gar nicht anders kann, wenn ich dem Irrsinn begegne. Das "Nein-Sagen" angesichts von Terror und Ungerechtigkeit ist mir anerzogen worden - da werden die Schergen des Kapitals wohl noch ein paar Jahre lang läppische Probleme mit mir und meinesgleichen haben. Aber auch dieses kleine Manko wird sich irgendwann biologisch ganz von selbst lösen, und dann haben sie wieder freie Hand.
Es ist wohl richtig, dass noch nicht jeder in dieser Gesellschaft degeneriert ist - aber es dauert wohl nicht mehr allzu lange, bis dieser aus kapitalistischer Sicht unhaltbare Zustand endlich korrigiert ist.
Fatalismus war nie eines meiner Steckenpferde - aber wo, bitte, ist denn das Fünkchen Hoffnung zu finden, das ihn wieder vertreiben könnte?
Liebe Grüße!
Lieber Charlie, ich lese Ihren Blog sehr gerne und bin froh über Ihre Statements zur Lage der Nation ;-). Deswegen habe ich oben bereits geschrieben, dass Sie doch bitte mit dem Schreiben nicht aufhören sollten. Auch wenn Sie schreiben, dass es wohl nix bewirkt, ist es Ihre Stimme, die Sie hier äußern und ich höre sie sehr gerne :-). Lg
@ Anonym: Herzlichen Dank für die Rückmeldung. Ich wünschte nur, es gäbe noch weitaus mehr Menschen, die ihre Stimme im Netz benutzten, um in den viel zu kleinen Chor des Widerstandes einzustimmen.
Ich befürchte, dass viel zu wenige realisieren, wie dringlich das heute ist.
Liebe Grüße!
Hallo Charlie, ja Sie sagen es. Deswegen finde ich Kommentare von Lesern, die immer alles runtermachen müssen und sagen, es ist eh alles für den Arsch auch nicht besonders rücksichtsvoll und konstruktiv. Ich finde, wenn schon einer sich die Mühe macht und gegen den täglichen Scheiß anschreibt und sich Gedanken macht und den Leuten was mitzuteilen hat, sollte man das wenigstens respektieren. Ich z. B. lese sehr gerne die Gedanken anderer und bin wirklich froh, dass nicht jeder in dieser Republik Scheiße im Kopf hat. Lg
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