Meine Söhne, sagt Herr Fahrenkamp, sind wortkarg genug. Ich frage sie dieses und jenes, ich bin kein Unmensch, es interessiert mich, was die Jugend denkt, schließlich war man selbst einmal jung. Wie soll nach Eurer Ansicht die Zukunft aussehen, frage ich und bekomme keine Antwort, entweder meine Söhne wissen es selber nicht oder sie wollen sich nicht festlegen, es soll alles im Fluss bleiben, ein Fluss ohne Ufer sozusagen, mir geht das auf die Nerven, offen gesagt. Darüber, was es nicht mehr geben soll, äußern sich meine Söhne freimütiger, auch darüber, wen es nicht mehr geben soll, den Lehrer, den Richter, den Unternehmer, alles Leute, die unseren Staat aufgebaut haben, in größtenteils demokratischer Gesinnung, aus dem Nichts, wie man wohl behaupten kann, und das ist jetzt der Dank. Schön und gut, sagen meine Söhne, aber Ihr habt etwas versäumt, und ich frage, was wir versäumt haben, die Arbeiter sind zufrieden, alle Leute hier sind satt und zufrieden und was gehen uns die Einwohner von Bolivien an. Ihr habt etwas versäumt, sagen meine Söhne und gehen hinunter in den Hobbyraum, den ich ihnen vor kurzem habe einrichten lassen. Was sie dort treiben, weiß ich nicht. Meine Frau meint, dass sie mit Bastelarbeiten für Weihnachten beschäftigt sind.
(Marie Luise Kaschnitz [1901-1974]: "Hobbyraum", aus: "Steht noch dahin. Betrachtungen", 1970)
2 Kommentare:
Das "Versäumnis", dass bereits 1970 angemahnt wurde, ist auch im Jahr 2017 nicht als solches erkannt.
Immer wieder beeindruckend, wie lange schon der Irrsinn des Systems benannt wird, und wie depremierend, dass das trotzdem nicht zu einer positiven gesellschaftlichen Veränderung führt.
Mir scheint, von Beginn an dienen die kritischen Stimmen einzig als Alibi einer "funktionierenden" Meinungsfreiheit eines sich selbst als freiheitlich inszenierenden Systems.
Vielen Dank für dein stets für mich erkenntnisreiches "Stöbern" in der Literatur vergangener Tage, @ Charlie
@ Frau Lehmann: Danke für die Rückmeldung. Noch viel erschreckender als Deine - durchaus berechtigte und ernstzunehmende - "Alibi-These" finde ich den Umstand, dass es vergleichbar kritische Texte heutiger SchriftstellerInnen kaum noch gibt. Entweder werden die nicht mehr verlegt - oder niemand möchte mehr, aus welchen Gründen auch immer, so etwas schreiben und publizieren.
In den vier Jahrzehnten nach 1945 (und vor 1933 sowieso) sah das völlig anders aus. Die kritische Literatur ist heute so gut wie tot - abgesehen von der Sparte bzw. Nische der dystopischen Literatur, die unverändert auch weiterhin existiert.
Liebe Grüße!
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